Mit Inkrafttreten des Thüringer Jugendstrafvollzugsgesetzes zum 01.01.2008 stellten sich für alle in der Jugendstrafrechtspflege tätigen Berufsgruppen jenseits der bisherigen Praxis weitere Herausforderungen ein. Darüber hinaus sind aber erstmals neue Instrumente gesetzlich verankert, die über viele Jahre hinweg auch von der DVJJ eingefordert wurden. Zu diesen neuen Instrumenten zählt u.a. die Sozialtherapie, welche aufgrund ihrer interdisziplinären Herangehensweise in den Mittelpunkt des nunmehr zum fünften Mal stattfindenden Thüringer Jugendgerichtstags im Erfurter Landtag gestellt wurde. Gerade weil es bislang auf Landesebene ausschließlich als ein Angebot in der Kann-Form verankert ist, war es Ziel der Organisatoren um die DVJJ-Landesvorsitzende Heike Ludwig, dieses neue Instrument einer breiten Gruppe von Professionellen vorzustellen, kritisch zu hinterfragen und mit bundesweiten Beispielen guter Praxis für die Umsetzung handhabbar zu machen.
Mit Unterstützung des Thüringer Ministeriums für Soziales, Familie und Gesundheit war es möglich, Referenten sowohl aus dem kriminologischen und psychiatrischen Forschungsbereich als auch aus unterschiedlichen Feldern der sozialtherapeutischen Anwendung für die Veranstaltung zu gewinnen. Die hohe Anzahl von über 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus allen Bereichen der Jugendstrafrechtspflege verweist zum einen auf die Brisanz des ausgewählten Themas und zum anderen auf die Fähigkeit der DVJJ, interdisziplinär alle betroffenen Berufsgruppen in die fachliche und fachpolitische Fortentwicklung einzubinden.
Die Thüringer Justizministerin Marion Walsmann unterstrich in ihrer Eingangsrede, die weit über den Charakter eines sonst üblichen Grußwortes hinausging, die hohen Erwartungen seitens des Gesetzgebers im Hinblick auf dieses neue Instrument. Mit der Eröffnung einer eigenen sozialtherapeutischen Abteilung in der Thüringer Jugendstrafanstalt Ichtershausen zum 01.09.2008 leiste das Land bei der Implementierung der Sozialtherapie einen großen Beitrag, um neben der Behandlung von Sexualstraftätern auch die Gewaltprävention gerade bei schweren Gewalttätern mit Persönlichkeitsstörungen zu forcieren.
Mit dem Anspruch, aus der historischen Entwicklung der Sozialtherapie ein Verständnis für dieses Instrument mit seinen Chancen und Begrenzungen in der heutigen Zeit zu erlangen, markierte Rudolf Egg, Leiter der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden, die Merkmale dieses psychotherapeutischen und lerntheoretisch ausgestalteten Instruments. Die Sozialtherapie, als ein ‚Kind seiner Zeit’ im jeweiligen Verständnis vom abweichenden Verhalten, kann seit seiner Implementierung im Jahr 1969 auf mittlerweile 47 Einrichtungen mit 1952 Plätzen verweisen. Im Jugendbereich können derzeit 204 Plätze in 10 Einrichtungen angeboten werden. Mit weiter ansteigender Tendenz sind aktuell 62,5 % aller Plätze aufgrund von Sexualdelikten belegt, gefolgt von Tötungsdelikten mit 17,6 % und Eigentums /Vermögensdelikten mit 11,6 %. Sozialtherapeutische Maßnahmen sind bei jungen Straffälligen nach Ansicht des Referenten eine wichtige und längst überfällige Ergänzung zur Erreichung des Vollzugsziels. Bundesweit sei daher ein weiterer Ausbau zu erwarten, wobei sich derzeit trotz dieses quantitativen Fortschritts die Herausforderung stelle, qualitativ nicht unter den derzeitigen Stand der fachlichen Umsetzung zurückzufallen.
Markus Weiß stellte anschließend Erfahrungen aus den zwei Sozialtherapeutischen Abteilungen der Jugendanstalt Hameln vor dem Hintergrund der Struktur der Anstalt vor. Hameln hat eine separate Diagnostikabteilung eingerichtet, die auch die Indikation für die Sozialtherapie im Rahmen des Förderplanes oder seiner Fortschreibung abklärt. Er betonte, dass Sozialtherapie klaren Standards entsprechen muss. Das gilt natürlich auch und ganz besonders für den Jugendvollzug. Man kann keinesfalls davon ausgehen, dass Jugendvollzug per se Sozialtherapie sei. Vorliegende Untersuchungen zur Sozialtherapie zeigen, dass einzelne Maßnahmen kaum, aber die Kombination von Maßnahmen sehr wohl rückfallverhindernd wirken. Anhand von kurzen Fallbeispielen wurden Handlungsmöglichkeiten und -resultate der Sozialtherapie exemplarisch dargestellt.
Das Konzept der kürzlich eingerichteten Sozialtherapeutischen Abteilung der Jugendstrafanstalt Ichtershausen wurde von Jürgen Ptucha, Rainer Scharnowski und Michael Petersen sehr anschaulich vorgestellt. Die Abteilung umfasst gegenwärtig 14 Plätze. Jeder junge Strafgefangene in der Sozialtherapie ist in Ausbildungs- oder Arbeitsangebote eingebunden und nimmt an zwei verschiedenen Gruppen teil. Als Mindestverweildauer sind sechs Monate vorgesehen. Es werden sozialpädagogische, verhaltenstherapeutische, psychoanalytische sowie sport- und erlebnisorientierte Methoden eingesetzt. Von Montag bis Donnerstag findet täglich eine halbstündige Abendabschlussgruppe der Inhaftierten statt, in der alle aktuellen Probleme gemeinsam mit dem Personal besprochen werden.
Die Entwicklung eines Angebotes für junge Maßregelvollzugspatienten im Rahmen der konzeptionellen und baulichen Entwicklung des Maßregelvollzuges im Unstrut-Hainich-Klinikum Mühlhausen hat der Chefarzt der forensischen Psychiatrie dieses Klinikums Norbert Boyan dargelegt. Er betonte, dass Maßregelvollzug für junge Patienten nur sehr wenige Fälle betrifft und auch auf Grund der zeitlich unbestimmten Dauer (abhängig vom Therapieerfolg) fachlich nicht unumstritten ist. Die durchschnittliche Verweildauer bei den nach JGG untergebrachten Patienten beträgt im Klinikum Mühlhausen ca. fünf Jahre. Wichtig für die Entlassung und die Stabilität der Therapieerfolge ist der Kontakt zu entsprechenden Nachsorgeeinrichtungen.
Bernhard Blanz, Chefarzt in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychotherapie am Universitätsklinikum Jena, referierte zu Störungsbildern im Kindes- und Jugendalter, die einen engen Bezug zu späterer Straffälligkeit haben. Hier sind insbesondere ADHS und die Störung des Sozialverhaltens relevant. Von den Kindern und Jugendlichen mit ADHS werden ca. 50 % später mit Straftaten auffällig. Die Erkrankung beginnt meist im Vorschulalter und wirkt aber auch im Erwachsenenalter fort, was oft nicht gesehen wird; die typischen Symptome ändern sich jedoch. Über die Hälfte der Kinder mit ADHS entwickeln auch Störungen des Sozialverhaltens, das verweist auf die Notwendigkeit, auf ADHS möglichst umfassend präventiv zu reagieren. Da ADHS heute als zu 80 % genetisch determiniert angesehen wird, sind damit auch Fragen an den Umgang mit straffälligen ADHS-Patienten verbunden. Weiterhin wies er darauf hin, dass die Kinder- und Jugendpsychiatrie primär die Diagnostik leisten kann, zur Therapie bedarf es langfristig arbeitender therapeutischer Einrichtungen.
Zum Abschluss der Tagung wurden entsprechende ambulante Einrichtungen vorgestellt. Katharina Ruhland von der Jugendwerkstatt Nova GmbH stellte uns das Konzept und die Arbeit in der Präzeptorei Schönberg vor. Als ein weiteres Beispiel für einen sozialtherapeutischen Ansatz mit Jugendlichen präsentierte Rico Claus vom CJD Heinrichstift Hohenleuben seine Einrichtung. Beide Institutionen leisten sozialtherapeutische Arbeit mit schwieriger Klientel außerhalb des Vollzuges und werden als U-Haft-Vermeidung, als Weisung und als Bewährungsauflage bei Jugendlichen und heranwachsenden Straftätern genutzt. Gearbeitet wird mit einem strikten Regelsystem, vielfältigen Ausbildungsangeboten und therapeutischen Maßnahmen. Kernpunkt sind tägliche Gespräche zur unmittelbaren Verhaltensbewertung und auswertung.
Im Rückblick kann festgehalten werden, dass der 5. Thüringer Jugendgerichtstag eine Thematik in seinen kriminologischen Notwendigkeiten, wissenschaftlichen Grundlagen und praktischen Umsetzungen angesprochen hat, die derzeit stark im Fokus steht und alle beteiligten Berufsgruppen wohl auch noch länger fachlich herausfordern wird. Die Vielfalt der Tagungsbeiträge konnte das Thema in seiner Vielschichtigkeit problematisieren und allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern wertvolle Impulse für die weitere Arbeit vermitteln. Die Tagungsbeiträge, Präsentationen und einige Impressionen können auf der Internetseite der Landesgruppe Thüringen abgerufen werden.
Dr. Jörg Fischer ist Professer für Bildungs- und Erziehungskonzepte an der Fachhochschule in Erfurt und Vorstandsmitglied der DVJJ-Landesgruppe Thüringen
joerg.fischer@fh-erfurt.de
Prof. Dr. Heike Ludwig ist Hochschullehrerin am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Jena und Vorstandsvorsitzende der DVJJ-Landesgruppe Thüringen
heike.ludwig@fh-jena.de
Einige Referate der Veranstaltung: